EU-ropa befindet sich in einer historischen Krise. Und das ist gut so. Es wäre nun an der Zeit, den viel beschworenen "Nachdenkprozess" an der Wurzel beginnen zu lassen. Wurzel meint nicht die Zukunft der EU-Verfassung oder das Tempo der anstehenden Erweiterung, sondern die Frage, wieso es keine europäische politische Union geben kann.
Trotz der intensiven europäischen Integrationsmaßnahmen, beklagt man, fehlt es den Bürgern an einem "europäischen Bewusstsein". Nun könnte man es sich freilich leicht machen, das Bewusstsein als etwas genuin Individuelles annehmen und den Terminus "europäisches Bewusstsein" als Kollektivismus brandmarken. Vielleicht jedoch ist es sogar insofern berechtigt, in gewissem Maße ein kollektives Bewusstsein anzunehmen, als man damit einen allgemein akzeptierten Kanon an Grundwerten und -überzeugungen bezeichnet. Ein Blick in die USA, deren Staatsaufbau den hartnäckigsten Verfechtern einer politischen Union Europas als Vorbild dient, lässt das Abstrakte anschaulich machen. Das Vielvölkergemisch in den USA - der sog. "melting pot of nations" - wird durch gewisse Grundprinzipien zusammengehalten, auf Grundlage derer sich Hispanics, Schwarze genauso wie Weiße unter dem star sprangled banner versammeln und ein Patriotismus erst möglich ist. Diese Überzeugungen lauten "jeder muss arbeiten", "niemand kann auf Kosten eines anderen leben", "der ständige Neuaufbau und -beginn ist möglich" (Ausfluss des typisch amerikanischen Pionierdenkens), "Menschen neigen dazu, Macht zu missbrauchen", "individuelle Freiheit ist ein unantastbarer Wert" etc. Sehr zu empfehlen ist in diesem Kontext das Buch
"American Beliefs: What Keeps a Big Country and a Diverse People United" von John Harmon McElroy. Europa hat weder eine gemeinsame Geschichte (wenn man von der wenig identitätsstiftenden gemeinsamen Teilnahme an diversen Kriegen absieht) noch gemeinsame Grundüberzeugungen. Was verbindet Briten und Deutsche? - Auf der einen Seite das Land der in Magna charta libertatum, Bill of Rights usw. gewährleisteten Freiheitsrechte, das Geburtsland des demokratischen Parlamentarismus und Liberalismus, auf der anderen Seiten die ewig staatsgläubigen Deutschen, von denen Napoleon zurecht gesagt hat, dass es "kein gutmütigeres, oder auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche" gäbe und "keine Lüge (...) grob genug ersonnen werden [kann], die Deutschen glauben sie". Ein nicht zu unterschätzender Faktor stellt freilich auch die Sprachenvielfalt dar, die ein europäisches Bewusstsein zusätzlich erschwert, wenngleich mir der Mangel an Grundwerten als der schwerwiegendere Faktor erscheint.
Diesen Ausführungen wird manchmal entgegengehalten, dass das "europäische Sozialmodell" die Essenz der europäischen Idee und eines diesbezüglichen Bewusstsein sei. Dazu kann man nur sagen: God help us. Wer ein Modell, das 20 Millionen Arbeitslose zu verantworten hat, als Basis eines kollektiven Bewusstseins wählt, ist entweder Masochist oder Sozialist (und in den meisten Fällen bedingt das eine das andere). Zudem entbehrt die Behauptung jeglicher Realität. Dieses (gescheiterte) "europäische Sozialmodell" ist ein deutsch-französisches, das z.B. den Staatsstrukturen der osteuropäischen Reformstaaten diametral entgegensteht. Der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus gibt
kaum ein Interview, ohne Friedrich August von Hayek zu erwähnen, die Slowaken denken nach dem großen Erfolg der Flattax-Einführung über eine weitere Senkung nach etc.
Europa ist ein politisches, künstliches Gebilde, aber keine materielle Idee. Alles, was über eine Freihandelszone hinausgeht, ist daher zum Scheitern verurteilt.