Über die pervertierte Demokratie
In diesem Sinne darf das Topthema der letzten Tage nicht übergangen werden: ist der Osten nicht nur "frustriert", sondern auch "dumm", wie der CSU-Ministerpräsident Stoiber behauptet? Nach längerem medialen Rätseln über Sinnhaftigkeit und Motivation der Union'schen Verbalinjurien gegen den Osten ist man sich in den Schreibstuben nun einig: dahinter steckt Absicht. Worin allerdings besteht diese, erscheint es vordergründig doch als kontraproduktiv, einen bedeutenden Wähleranteil unter kollektiven Frustrations- und Dummheitsverdacht zu stellen? - Die Antwort lautet: Wählerstimmenmaximierung.
Schönbohm, Stoiber und Co. vertrauen darauf, dass ihre West-Ost-Polarisierung eine verstärkte Mobilisierung der Unions-Wähler im Westen auslöst, die etwaige Stimmenverluste im Osten summa summarum übersteigt. Der dadurch ausgelöste hysterische Sturm der Entrüstung ist politisch verständlich, jedoch bei Zugrundelegung der anerkannten demokratischen Doktrin alles andere als gerechtfertigt. Substantiell erstreckt sich die Kritik auf den Vorwurf, absichtlich bestimmte gesellschaftliche bzw. geographisch determinierte Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen und daraus Kapital zu schlagen.
Liebe SPD et alii, die ihr euch gar nicht genug darüber ereifern könnt, dass die Menschen im Osten keine Wähler zweiter Klasse bilden: das ist das Wesen einer jeden (pervertierten) Demokratie. Ob reiche Kapitalisten gegen arme Arbeiter (Allheilmittel: Spitzensteuersatz nicht unter 90% in Verbindung mit saftiger Vermögenssteuer), Sozialhilfe-schmarotzende Ausländer gegen anständige Inländer (Allheilmittel: Ausländer raus bzw. gar nicht erst rein), arme, wettbewerbsunfähige Bauern gegen den Rest (Allheilmittel: Subventionieren bis zum Abwinken), Alte gegen Junge (Allheilmittel: "Generationenvertrag") - immer geht es um das Ausspielen von Interessen bzw. Ansprüchen (in einem rechtspositivistischen "Sozial"-Staat ohnehin gleichbedeutend mit "Rechte") der einen gegen jene der anderen Gruppe.
Moralische Entrüstung ist demnach sehr wohl angebracht; allerdings nicht über die Tatsache, dass die anderen es wagen, sich ebenso der allgemein anerkannten Methoden der demokratischen Auseinandersetzung zu bedienen, sondern darüber: "The thing! The thing itself is the abuse!" (Edmund Burke)
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